Wildseide

Als Wildseide wird Seide bezeichnet, deren Fasern aus den Kokons bereits geschlüpfter Seidenspinner gewonnen werden. Zu den Wildseitenarten gehören unter anderem die Fagaraseide, die aus den Kokons des Atlasspinners gewonnen wird, und die Tussahseide, gewonnen aus den Kokons des Eichenseidenspinners. Auch aus den Kokons des Maulbeerseidenspinners kann Wildseide hergestellt werden.

Gewinnung von Wildseide

Es gibt unterschiedliche Wege, um Seide zu gewinnen. Für Maulbeerseide werden die Larven in den Kokons des Seidenspinners mit heißem Wasser oder Wasserdampf abgetötet, um einen vollständigen, unzerstörten Kokon abhaspeln zu können. Für die Gewinnung von 250 Gramm Seide müssen rund 3.000 Puppen getötet werden.

Wer sich mit diesem Gedanken nicht wohlfühlt, muss nicht unbedingt auf Textilien aus glänzender Seide verzichten. Es besteht nämlich auch eine Möglichkeit, Seide ohne das Abtöten der Puppen zu gewinnen. Diese Seide wird als Wildseide bezeichnet.

Der Herstellungsprozess von Wildseide

Die ersten Arbeitsschritte zur Gewinnung von Seide sind immer gleich: Zunächst müssen die Kokons gesammelt werden. Während Maulbeerspinner bereits seit Jahrhunderten für die Seidenproduktion gezüchtet werden, leben andere Seidenspinner, wie der japanische Eichelseidenspinner oder Atlasseidenspinner, wild – allerdings in der Regel in einer kontrollierten Umgebung. Bei Seidenspinnerarten wie dem Japanischen und Chinesischen Eichelseidenspinner handelt es sich um Schädlinge, deren unkontrollierte Verbreitung nicht wünschenswert wäre.

Die Kokons werden erst eingesammelt, wenn der Schmetterling geschlüpft ist. Die Seide des Eichelseidenspinners wird als Tussahseide, die des Atlasspinners als Fagaraseide bezeichnet. Die Kokons werden gereinigt, anschließend laufen in einem so genannten Haspelbad große Bürsten über sie hinweg. Spindeln erfassen je einen Seidenfaden und wickeln diesen in einem Zug vom Kokon ab – das so genannte Abhaspeln. Ein Wildseidenfaden kann eine Länge von bis zu 3.000 Metern erreichen; die meisten Fäden haben eine Länge zwischen 300 und 900 Metern. Aufgrund der Verletzungen im Kokon, die durch das Schlüpfen der Falter entstanden sind, können die Fäden nicht immer in einem Zug abgehaspelt werden und müssen versponnen werden. Um die einzelnen, kurzen Fäden zu einem langen Faden zu verbinden, werden sie beim Weben verdickt. Dadurch entsteht die für Wildseide typische unregelmäßige, genoppte Oberfläche, die sich von der glatten Struktur normaler Haspelseide unterscheidet. Schließlich werden die Rückstände des Seidenleims, mit dem der Kokon zusammengehalten wurde, aus den Seidenfäden entfernt.

Arten von Wildseide

Nach Art des Seidenspinners, dessen Kokons gesammelt werden, lassen sich verschiedene Arten von Wildseide unterscheiden.

1. Fagaraseide

Fagaraseide wird aus den Kokons des Atlasspinners gewonnen. Der zur Familie der Pfauenspinner gehörende Falter erreicht eine eindrucksvolle Flügelspannweite von bis zu 30 cm und gilt als größter Schmetterling der Welt. Auch sein Kokon ist mit drei bis acht Zentimeter vergleichsweise groß. Der Falter lebt ausschließlich in den tropischen und subtropischen Wäldern Südostasien, dem Süden Chinas und Indiens. Für die Seidengewinnung wird er nicht gezüchtet, stattdessen sammelt man die Kokons nach dem Schlüpfen der Falter von den Bäumen. Die Fäden werden im Schappeverfahren bearbeitet, das bedeutet, sie werden zunächst ausgekämmt und dann zu parallel liegenden langen Fasersträngen zusammengefasst. Im Gegensatz zur Maulbeerseide ist Fagaraseide von leicht bräunlicher Farbe und zudem etwas dicker als Wildseide anderer Falterarten. Dadurch nimmt sie Farbstoffe nicht ganz so gut an. Aufgrund ihrer aufwendigen Gewinnung ist Fagaraseide von nur geringer wirtschaftlicher Bedeutung.

2. Tussahseide

Eine der bekanntesten Wildseitenarten ist Tussahseide. Sie wird aus den Kokons wild lebender Japanischer Eichenseidenspinner gewonnen. Auch bei Tussahseide handelt es sich um Schappeseide, für die mehrere kürzere Fäden miteinander verwoben werden. Fäden aus Tussahseide sind zwischen 3 und 6 dtex fein. Anders als Fagaraseide kann die hellere Tussahseide Farbstoffe sehr gut aufnehmen. Sie wird daher gerne für die Herstellung von festlicher Garderobe und edlen Wohntextilien verwendet.

3. Eri-Seide

Bei Eri-Seide handelt es sich um eine noch nicht sehr populäre Variante der Wildseide. Sie stammt von den Kokons des Eri-Spinners oder Götterbaum-Spinners. Ursprünglich stammt der Falter aus den gemäßigten bis tropischen Klimazonen Ost- und Südostasiens. Im Zuge der Seidengewinnung hat sich der Schmetterling bis nach Europa verbreitet und kommt heute auch dort vor, wo Götterbäume als Zierpflanzen gehalten werden oder verwildert anzutreffen sind. Von der Zucht der Tiere sah man recht schnell wieder ab, da die zähe und grobe Eri-Seide sich wirtschaftlich nicht rentierte. Für die Gewinnung von Wildseide werden die Kokons aber bis heute gesammelt, unter anderem in Thailand. Dort füttert man die Raupen des Götterbaum-Spinners mit Maniok-Blättern. Die elfenbeinweißen, leicht wolligen und nicht komplett geschlossenen Kokons des Götterbaum-Spinners sind größer als die des Maulbeerspinners. Nach dem Schlüpfen der Falter werden sie gesammelt und im Schappeverfahren zu glänzenden Garnen verarbeitet.

4. Muga-Seide

Muga-Seide wird aus den Kokons des in Indien lebenden Mugaseidenspinners gewonnen. Genau wie der Atlasspinner gehört dieser Falter zur Familie der Pfauenspinner. In Indien ist Muga-Seide bereits seit Jahrhunderten populär, gilt einigen als heilig und war lange Zeit dem Königshof in Assam vorbehalten. Bis heute wird sie ausschließlich in Assam hergestellt. Muga-Seide zeichnet sich durch ihre glänzende, gold-braune Farbe aus. Die relativ poröse Seide kann nicht gebleicht oder eingefärbt werden und ist daher für die Seidenindustrie von nur geringer Relevanz.

Eigenschaften von Wildseide

Wildseide zeichnet sich durch die folgenden Eigenschaften aus:

  • Struktur: Charakteristisch für Wildseide die leichten Verdickungen im Gewebe. Sie kommen zustande, wenn die einzelnen Seidenfäden zusammengesponnen werden müssen.
  • Farbe: Ein Unterschied zur Maulbeerseide besteht darin, dass Wildseide nicht reinweiß ist. Ihre Färbung hängt hauptsächlich von der Nahrung der Raupen ab; je mehr Gerbstoffe die Nahrung enthält, desto dunkler wird die Wildseide. Wildseide lässt sich daher weniger leicht einfärben. Der Maulbeerspinner, aus dessen Kokons reinweiße Seide produziert wird, ernährt sich ausschließlich von Maulbeerbaumblättern, die kaum Gerbstoffe aufweisen.
  • Glanz: Wie gewöhnliche Haspelseide verfügt auch Wildseide über einen sehr hohen Glanz.
  • Reißfestigkeit: Die Reißfestigkeit von Wildseide ist ebenfalls mit gewöhnlicher Haspelseide vergleichbar.
  • Formbeständigkeit: Obwohl sie sich leicht auf der Haut anfühlt, ist Wildseide sehr formbeständig.
  • Temperaturausgleichende Wirkung: Mit der Haspelseide hat Wildseide auch ihre temperaturausgleichenden Eigenschaften gemeinsam. Seide kühlt bei warmen Temperaturen und wärmt bei Kälte.
  • Feuchtigkeitsaufnahme: Wildseide kann bis zu 40% ihres Eigengewichts an Feuchtigkeit aufnehmen und gibt diese anschließend wieder an ihre Umgebung ab.
  • Hautsympathisch und anti-allergen: Die Proteine der Seide sind denen der menschlichen Haut sehr ähnlich. Seidenstoffe sind sanft zu empfindlicher Haut und eignen sich auch für Menschen mit Ekzemen oder Allergien.

Aufgrund ihres hohen Glanzes, der temperaturausgleichenden Wirkung und des angenehmen Tragekomforts wird Wildseide allerdings in der Textilindustrie sehr geschätzt.

Verwendung von Wildseide

Aufgrund ihrer robusten und vergleichsweise unempfindlichen Eigenschaften eignen sich alle Wildseidenarten sehr gut für die Herstellung von Kissen- und Möbelbezügen. Ihre hautfreundliche, atmungsaktive, temperatur- und feuchtigkeitsregulierende Qualität macht Wildseide zum Beispiel zum idealen Stoff für Bettwäsche. Auch dekorative Vorhänge und sogar edle Vorleger werden aus dem hochwertigen Material gefertigt.

Wildseiden mit eher starrem, leinwandartigem Charakter werden ebenfalls zu Stoffen für die Inneneinrichtung weiterverarbeitet, aber auch für die Fertigung von edlen Hosen verwendet. Hosen aus Wildseide können problemlos das ganze Jahr über getragen werden. In der warmen wie in der kühlen Jahreszeit bewähren sie sich durch ihre temperaturausgleichenden Eigenschaften.

Wildseidenarten mit rauer Struktur, aber weichem Tragegefühl eignen sich hervorragend für die Herstellung von edlen Herrenanzügen und Damenblazern. Kombiniert mit einem edlen Seidenhemd oder einer schönen Seidenbluse, ergeben sie die optimale Businessgarderobe. Weiterhin wird Wildseide gerne zur Fertigung von aufsehenerregenden Abendroben verwendet.

Wie Haspelseide auch lässt sich Wildseide zu einer Vielzahl von Stoffqualitäten verarbeiten, sei es leichter Chiffon, glänzender Satin oder schwerer Brokat. Kleidung aus Wildseide wird für gewöhnlich unterfüttert.

Zertifikate für Wildseide

Unter gewissen Voraussetzungen kann Wildseide mit verschiedenen Qualitäts-Zertifikaten ausgezeichnet werden. Erfolgt der Futteranbau für die Raupen ohne Herbizide und Pestizide, werden für die Tierhaltung keine Hormone und chemischen Mittel eingesetzt, kann Seide grundsätzlich eine Zertifizierung gemäß EU Öko-Verordnung (EU 834/2007) beantragen. Dieses Zertifikat bestätigt die „kontrolliert biologische Tierhaltung“.

Wer auf ökologische, nachhaltige und soziale Kriterien Wert legt, sollte beim Kauf von Seidenprodukten zudem auf das GOTS-Siegel (Global Organic Textile Standard) und die IVN Best-Zertifizierung achten. Beide Standards legen fest, welche Substanzen im gesamten Prozess der Textilherstellung verwendet werden dürfen, welche Abwasserqualität erfüllt sein muss, und geben außerdem Richtlinien für faire Arbeitsbedingungen gemäß den Kernarbeitsnormen der International Labour Organization vor. Um eines der beiden Zertifikate zu erhalten, muss sich das Seidenprodukt zudem lückenlos bis zum Ursprung der Rohseide rückverfolgen lassen.

Peace Silk oder Ahimsa Seide

Wer nach Textilien aus Wildseide sucht, stößt heute häufig auf die Begriffe Peace Silk oder Ahimsa Silk. Dabei handelt es sich um Produkte aus gewaltfreier Seidenzucht und -gewinnung. Der indische Ingenieur Kusuma Rajaiah entwickelte ein Verfahren, mit dem die Puppen des Maulbeerspinners nicht abgetötet werden müssen. Auch die aus den Kokons des Eri-Seidenspinners gewonnene Seide wird als Ahimsa oder Peace Silk bezeichnet. Peace Silk oder Ahimsa Silk stammt aus Indien und wird dort unter Berücksichtigung strenger ökologischer Kriterien gewonnen.

Ahimsa bezeichnet im Sanskrit das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Die Herstellung konventioneller Maulbeerseide stimmt nicht mit diesem Prinzip überein. Für die Gewinnung von Ahimsa Seide werden daher zwei alternative Verfahren angewendet: Zum einen lässt man den Falter auf natürliche Weise schlüpfen und gewinnt die Rohseide anschließend im Schappeverfahren, wie es für Wildseide allgemein üblich ist. Für die zweite Variante werden die Kokons stetig überwacht, um den Zeitpunkt des Schlüpfens abzupassen. Vor dem Ausschlüpfen werden die Kokons aufgeschnitten, der Falter wird befreit und der Kokon zur Seidengewinnung verwendet. Dieses Verfahren ist sehr aufwendig, was zum vergleichsweise hohen Preis der Ahimsa Seide führt.

Die Aufzucht der Seidenraupen erfolgt unter natürlichen Bedingungen. Die Bäume, auf denen die Raupen des Seidenspinners leben, dürfen weder mit Fungiziden, Pestiziden noch genetischen Sprays behandelt werden. Zum Schutz vor Vögeln und Insekten werden stattdessen Netze über die Bäume gespannt. So kommen neben den Raupen auch keine anderen Lebewesen zu Schaden.

Pflegehinweise

Wildseide ist zwar ein wenig gröber und nicht ganz so fein wie Haspelseide, aber ebenso empfindlich. Ein möglichst schonender Umgang ist Pflicht, wenn Wildseide lange ihre attraktive Ausstrahlung behalten soll. Elegante Abendgarderobe und hochwertige Seidenanzüge gibt man am besten in die chemische Reinigung. Einige Kleidungsstücke und Wohntextilien aus Wildseide lassen sich auch zuhause reinigen. Dabei sollten die folgenden Hinweise beachtet werden:

  • Verwenden Sie ausschließlich ein spezielles, mildes Seidenwaschmittel ohne Alkali, um die empfindlichen Seidenfasern nicht zu zerstören.
  • Am besten waschen Sie Wildseide mit der Hand. Alternativ verwenden sie das Handwasch- oder Feinwäsche-Programm Ihrer Waschmaschine. Die Wassertemperatur sollte auf keinen Fall mehr als 30° C betragen.
  • Damit Wildseide ihren typischen Glanz behält, können Sie einige Tropfen Essig ins lauwarme Wasser geben. Der Geruch verfliegt beim Trocknen.
  • Das Trocknen sollte an der Luft erfolgen. Die Temperaturen im Trockner sind für empfindliche Seidenstoffe zu warm. Drücken Sie die Wildseide nach dem Waschen sanft in einem sauberen Handtuch aus und hängen Sie die Textilien anschließend glatt auf. Wählen Sie zum Trocknen einen schattigen Ort, da direkte UV-Einstrahlung die Proteine im Seidenstoff zerstört.
  • Möchten Sie Wildseide bügeln, stellen Sie das Bügeleisen auf eine niedrige Temperatur und legen Sie ein Stofftuch auf das Wäschestück, um den direkten Kontakt zum Bügeleisen zu vermeiden.